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Karl Marx, Köln, 3. Jan. Die russische Note über die preußische Presse

Köln, 3. Jan. Das russische Kabinet hat dem preußischen Gesandten eine Note überreicht, worin es die deutsche Presse der Zügellosigkeit bezüchtigt; so lautet die sonderbare Nachricht, die uns vor einigen Tagen aus Petersburg zugekommen ist. Sie ist ganz geeignet, in der Seele der deutschen Presse zwei Gefühle zu erregen, das der Freude und das des Zornes. Wir freuen uns, daß die Stimme der deutschen Presse bis an die Newa gedrun-gen ist und im Marmor-Palaste des Czaren widerhallt. Wir freuen uns,, daß sie den Weg bis zur Thüre des russischen Kabinets gefunden hat und dort Gesinnungen und Gedanken laut werden läßt, die der Militärdespotismus, die religiöse Verfolgungssucht, der alles verschlingende Eroberungsgeist für zügellos erklären. Die deutsche Presse hat zwar nur ihre Pflicht gethan; aber daß sie es gethan, muß man ihr höher anrechnen, als der englischen und französischen Presse. Sie hatte vorher sich selbst zu erobern, das Gefühl der Mannhaftigkeit in sich zu erwecken und jene Scheu und jene Furcht von sich zu werfen, die ihr bei dem Namen Rußland erstarrend durch die Nerven schlich. Die deutsche Presse ist da, ist geworden, denn Rußland, das bisher auf Erden nur die Stärke kannte, hat sie anerkannt, wenn gleich es ihre Macht mit dem Namen der Zügellosigkeit bezeichnet. Sie hat eine Kraft aus sich entwickelt und ihre Urtheile stören selbst die Ruhe der russischen Regierung; sie fürchtet dieselbe, darum will sie, daß ihr die alten Ketten wieder angelegt werden. Das Kabinet nennt sie zügel-los? Wir nehmen dies an, denn das Wort ist in Rußlands Munde ein ruhmwürdiges Zeugniß für sie. Sie ist zügellos, weil sie die russischen Zügel, die ihr zu Karlsbad, Aachen etc. um den Nacken gelegt wurden, abgeschüttelt hat. Das ist unsere Freude.

Unser Zorn ist es, daß die russische Regierung noch so von Deutschland denkt, wie unter Alexander, dessen Diplomaten auf allen Kongressen mit Taschen voll Memoiren, bald gegen die Presse, bald gegen die Universitä-ten und andere innern Angelegenheiten Deutschlands erschienen und die anmaßende Forderung stellten, ihr Leben und ihre Bewegungen im Geiste des russischen Gedankens zu gestalten und zu leiten. Steht Deutschland in den Augen des Petersburger Hofes noch so tief, daß er glaubt, gegen das-selbe eine Note richten zu dürfen, die er nie an den Gesandten Englands und Frankreichs gerichtet haben würde, obgleich die Presse beider Länder gegen die russische Politik eine Sprache führt, gegen welche die der deutschen nur das melodische Zürnen einer Nachtigall ist? Die Zeiten des russischen Schulmeisterthums sind auch für Deutschland vorüber; aber es ärgert uns, daß man dies noch nicht an den Ufern der Newa erkennt und das geistige Censoramt, das man früher über Deutschland sich anmaßte, aufrecht zu erhalten strebt. Es ist uns gleichgültig, ob das russische Kabinet der deutschen Presse ein Zeugniß der guten Führung ausfertigt oder nicht; doch gleichgültig ist uns nicht, wenn das russische Kabinet glaubt, es habe ein Recht, ein solches Zeugniß auszustellen und zu fordern, daß die deutschen Fürsten und die deutsche Nation bei ihren innern Angelegenheiten dasselbe als Norm zu betrachten und dessen Monita auszuführen haben. Ein solcher Glaube beleidigt uns und ein Handeln in seinem Geiste verletzt die Ehre und die Würde unserer Fürsten und das Selbstständigkeitsgefühl der deutschen Nation, welche die geistige Knechtschaft der Fremde zerschlagen wird, wie sie die politische auf hundert Schlachtfeldern erschlug. Wir hoffen, daß die ganze deutsche Presse einstimmig gegen die russische Note protestiren und sich wie ein Mann erheben wird. Sie zeige unsern Fürsten, daß die deutsche Nation bereit ist, sich einmüthig hinter ihnen zu schaaren, sobald es sich zur Abwehr russischer Uebergriffe handelt.

Zügellos war also die deutsche Presse? Allerdings, aber sie war es in gar fashionabler Gesellschaft. Sie sprach sich offen über die Einverleibung Polens aus; sie forderte Achtung vor den Wiener Verträgen und hieß es eine Verletzung derselben, die Verfassung des Landes zu vernichten, die politische [= polnische] Armee aufzulösen, die Verwaltung des Landes zu denationalisiren, der verbürgten Kirche ihre Güter zu nehmen; aber noch zügelloser war in dieser Hinsicht das englische Parlament, in welchem Lord Palmerston und Sir Robert Peel ein noch schwereres Urtheil fällten, auf welches die Nation in ihren Vertretern das Siegel drückte. Allerdings war die deutsche Presse zügellos, als sie ihr Mißfallen kundgab, wie das religiöse Gewissen von mehren Millionen unirter Griechen durch ein Dekret in eine russo-griechische Ueberzeugung umgewandelt werden sollte und die Verordnung ohne alle Rücksicht auf die religiöse Freiheit ausgeführt wur-de; aber zügelloser wie sie war noch der Papst, der in feierlichen Akten die Gewissensfreiheit jener Millionen vertheidigte; zügelloser war noch die französische Presse, selbst das feine, besonnene Journal des Débats und am zügellosesten die englische Presse, die Times und der Chronicle an ihrer Spitze. Die deutsche jammerte nur wehmüthig in Elegieen; doch Englands und Frankreichs Presse schleuderte die Blitze ihrer Entrüstung in vollen Bündeln. - Allerdings trat die deutsche Presse für die Freiheit der Donau in die Schranken und wollte nicht zugeben, daß an der Mündung des zweiten wichtigsten Stromes Deutschlands, der erst durch den Ludwig-Kanal seine volle Bedeutung erhalten wird, ein neues Russisch-Holland geschaffen werde; ihre Zügellosigkeit ging sogar bis zur Forderung, daß man Rußland nicht gestatte, seine Besitzungen an der Donau zu erweitern; dies war aller-dings sehr frech und sie würde den Tadel des russischen Kabinets höchlich verdient haben, wenn sie allein gestanden hätte; aber Lord Palmerston sprach, Lord Aberdeen schrieb und Fürst Metternich denkt vielleicht das-selbe. Gewiß war es von der deutschen Presse sehr zuchtlos neugierig, das Räthsel gelöst zu wissen, warum Rußland zwei mächtige Kriegsflotten unterhält, während es kaum etwas zu schützen hat, weder Kolonieen noch Handel; sie sprach ihre Besorgniß aus, daß die beiden Flotten sein sollten, was die Landheere Rußlands schon lange sind, Eroberungsheere, welche einstens die Freiheit der Ostsee und des schwarzen Meeres als Beute heim-tragen möchten. Die englische Presse theilte aber diese Befürchtungen und trieb die Zügellosigkeit bis dahin, die englische Regierung aufzufordern, ihre Flotten nach jenen Meeren zu senden und die russische Schiffsmacht auf das Maß des wahren Bedürfnisses des Reiches zu beschränken. - Ist die deutsche Presse zügellos, weil sie da nur lispelt, wo die Englands und Frankreichs donnert? Muß sie unter die Zucht eines russischen Censors genommen werden, wenn sie in ihren stillen, kühlen Fluthen nur die brennende Sonne der englischen und französischen Presse, die Ungewitter kocht, wiederspiegelt?

Rheinische Zeitung Nr. 4 (4. Jan. 1843), S. 1/III-2/I

Annotated article also published in:
Götz Langkau und Hans Pelger, Studien zur Rheinischen Zeitung und zu ihrer Forderung nach Handelsfreiheit und Grundrechten im Deutschen Bund: mit einem Brief von Karl Marx an Hermann Müller-Strübing (1843) 401 p.
Schriften aus dem Karl-Marx-Haus; 51 (Trier 2003)
Call number: 2004/6997 pp. 266-268

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